Ob das Wetter hält? „Betet zur Heiligen Jungfrau“, sagt Alex, unser Guide, als er uns nach unserer Ankunft am Tegernsee die Sattelhöhe einstellt.
Alex kennt die Tour vom Tegernsee zum Gardasee wie seine Westentasche, schließlich ist er hier seit Jahren unterwegs. „Der berühmte Rosengarten, den wir in den Dolomiten sehen, hängt als Ölbild über meinem Bett.“ Überzeugt, der Mann ist mit Herzblut bei der Sache. Mein Mann Lars und ich freuen uns auf eine Woche mountainbiken über den Alpenhauptkamm von Nord nach Süd. Die Felstürme und Gipfel der Dolomiten, deren Formen bisweilen an Backenzähne und Sägeblätter erinnern, zählen zu Recht zu den schönsten Bergen weltweit und sind Grund genug für uns, die 455 Kilometer und rund 11.000 Höhenmeter in Angriff zu nehmen. „Die erhabenen, monumentalen und farbenreichen Landschaften der Dolomiten haben seit jeher eine Vielzahl von Reisenden fasziniert und waren Quelle zahlreicher wissenschaftlicher und künstlerischer Interpretationen“, so die Begründung der UNESCO, die im Jahr 2009 einen Großteil der Region den Status „Welterbe“ verlieh.
Unser heutiges Tagesziel ist das mittelalterliche Schwaz, das wir in Begleitung der Brandenburger Ache erreichen. Ihr Lauf stellt eine Besonderheit dar: Während andere Flüsse in den Alpen entspringen und nach Norden zum Alpenrand fließen, nimmt sie den umgekehrten Weg von Norden nach Süden und durchschneidet die Nördlichen Kalkalpen zum Inn hin. Bevor wir unser Hotel beziehen, nehmen wir noch die Gassen der Altstadt unter die Reifen.
„Wir müssen uns beeilen, wenn wir trocken im Hotel ankommen wollen, am frühen Abend hat es Regen gemeldet!“, drängt Alex, also schnell weiter. Schuld an unserer Zeitnot sind wir selbst: Das Café, was großartige Aussichten auf den Achensee eröffnet, hat uns zu lange an seinen Cappuccino gefesselt. Am nächsten Morgen gerät der harmlose Tour-Einstieg in Vergessenheit. Jens, lockiger Bestandteil unserer Gruppe, drahtig wie ein Marathonläufer und gut gelaunt, nimmt den Eingang ins Wipptal unter die Reifen, als sei er auf der Flucht. Kies knirscht unter uns, eine Bergdohle kreischt übers Tal. Wir beißen in einen Landjäger. Unter uns schmiegt sich Innsbruck in sein Tal, im Norden erstreckt sich das Karwendel und mit dem Anblick des Stubaier Gletschers im Süden erwachen die Lebensgeister. Bis wir mittendrin sind, in der schroffen, ausgesetzten alpinen Bergwelt, durchqueren wir zunächst einige saftige Almwiesen und auch an Tag drei müssen wir zunächst die alte Landstraße über den Brenner nach Italien nehmen. Schroff und sanft zugleich wachsen westlich von uns die Flanken der Sarntaler Alpen in die Leere des bewölkten Himmels, mal senkrecht aufragend, mal in abgerundeten Stufen.
„Da ziehen die dunklen Wolken heran“, sagt Nora, Fitnesswunder aus München, und deutet Richtung Marmolada-Kette im Nordosten. Über ihr erhebt sich eine Gewitterwolke in der Form eines riesigen Blumenkohls. Unser Weg windet sich in weiten Bögen durch ein Amphiteather des Schutts bergab. Stacheldrahtreste und vermodertes Holz von Unterständen aus der Zeit des Gebirgskrieges zwischen Österreich-Ungarn und Italien (1915 bis 1918) liegen herum. Auf den Bänken vor einer Berghütte kommt das Herz zur Ruhe. Wolkenfetzen spielen über dem Naturpark Schlern-Rosengarten im Südosten. „Das helle Gestein blendet wie Sand am Meer“, sagt unser Mitstreiter Sebastian und setzt seine Sonnenbrille auf. Sein Vergleich hinkt, denn wir laufen über Meeresboden. Was sich so hell vor uns ausbreitet, bildete einst den Boden einer Lagune. In der Urzeit ragten die Spitzen der Berge aus dem Urmeer Tethys. Wer sucht wird sie finden: rundliche Gesteinsbrocken mit Löchern – Reste von Korallenstöcken, wie man sie eher an einem Südseestrand erwartet.
Mit den Eiszeiten in den letzten fünf Millionen Jahren wurden Täler modelliert und das Gebirge von einer Eisschicht bedeckt, was seine Spuren in U-Tälern und Moränen hinterließ. Die Gebirgskette Marmolada, auch bekannt als die „Königin der Dolomiten“, trägt heute Dolomiten-untypisch den einzigen größeren Gletscher der Region. Mit seiner Nordseite zeigt uns das Marmolada-Massiv bereits von hier sein schroffes Gesicht. Auf seinem Gratrücken stehen fünf Dreitausender Wache, deren Flanken nach Süden gut 800 Meter tief ins Ombrettatal abbrechen.
Neben dem höchsten Berg des Marmolada-Massivs und der gesamten Dolomiten, der Punta Penia (3343 m), ragen von Ost nach West die Punta Rocca, die Punta Ombreta, der Pizzo Serauta und der Punta Serauta auf. Unser Weg gewinnt an Steilheit. Schweißperlen treten auf die Stirn, als wir im Grödnertal in die Pedale treten. Nach einer guten Stunde erreichen wir mit der Seiser Alm die größte Hochalm Europas. Vor uns öffnet sich eine Bilderbuchlandschaft der besonderen Art, ausgedehnte Almwiesen, eingerahmt von den mächtigen Kolossen aus Schlerndolomit. Mit einem Radler in der Hand genießen wir die Aussichten auf Langkofel, Schlern und Geislergruppe und rollen nach einer Abfahrt von 1700 Höhenmetern nach Bozen ein, der Heimatstadt der Bergsteigerlegende Reinhold Messner. Im Etschtal winkt uns die alpine Bergwelt noch einmal zu. Entsprechend bunt gemischt ist das Publikum auf der Alm, wo wir unsere Mittagspause einlegen: Biker wie wir, Alpinisten und einige Klettersteiggeher. Den Grund für die Anwesenheit der Ferratisten liefert der Hüttenwirt persönlich: „Von hier aus gelangt man über die Via Ferrata Burrone Giovanelli nach Baita die Manzi“, erklärt er.
Auf Felsplatten geht es unter den Füßen lotrecht rund achtzig Meter hinunter. Selbst Schwindelfreien wird beim Tiefblick auf die für Kletterer legendäre Südwand mulmig, vor allem bei der Vorstellung, dass Soldaten im Ersten Weltkrieg hier einst Geschütze hochschleppten. Am Gardasee ist Schluss mit der Magie der Berge, im Küstenort Riva del Garda empfängt uns mit einer Parade an Eisdielen das italienische Dolce Vita.
Während Lars und ich am Seeufer über Erdbeereis herfallen, streift unser Guide Alex durch die Gegend. Später entdecken wir ihn und neben dem Biken seine zweite Leidenschaft: Das Rosengarten-Massiv in Öl, was seine Schlafzimmerwand ziert, soll Gesellschaft bekommen. Alex sitzt in einer der engen Gassen am Uhrturm, dem Wahrzeichen Rivas, und skizziert die Uferpromenade des Gardasees auf einem Bogen A3-Papier. „Weil ich süchtig nach diesen Landschaften bin“, sagt er und strahlt mit der Sonne um die Wette.
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